Das aktuelle Schulsystem soll Kindern vor allem eines vermitteln: Wissen. Aber sollte es in einer so wichtigen Institution nicht um mehr gehen, als das? Wie ein neues & innovatives Schulsystem Kindern schon früh beibringen kann, Verantwortung zu übernehmen und an sich selbst und ihre eigenen Fähigkeiten zu glauben, erklärt uns Jamila Tressel.
Es ist eine Menge Zeit, die wir Menschen im Kindes- und Jugendalter in der Schule oder mit schulischen Aufgaben verbringen. Um genau zu sein, sind es durchschnittlich 38,5 Stunden pro Woche - eine Zahl, die einem Vollzeitjob gleicht. Besonders im jungen Alter prägt die Schule und die Erfahrungen, die wir in und mit ihr machen, unsere Persönlichkeit und unser Mindset. Wäre es da nicht angebracht, den Kindern ein wenig mehr zu vermitteln, als faktisches Wissen, Leistungsdruck und standardisierte Konzepte?
01:16 Arne: Ich habe darüber nachgedacht, ob es sinnvoll ist, dass Lehrer verbeamtet sind. Dadurch werden die Lehrer so sehr im System festgehalten, dass sie im Zweifel nicht bereit sind, diesen Schuldienst zu verlassen, selbst wenn sie sich dort nicht mehr wohlfühlen. Was ist Deine Meinung dazu?
Jamila: […] Das ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits finde ich es natürlich wichtig, dass Lehrer ihre Anerkennung bekommen. Alle Eltern, die Homeschooling gemacht haben, haben gemerkt, dass dieser Job es in sich hat. Idealerweise ist es eine Berufung, der Du Dich stellst, wenn Du Lehrer wirst. Wenn Du nicht mit Herzblut dabei bist, kann das zu einer Last werden. Wenn Lehrer Vorbilder sind, aber eigentlich keine Lust auf die Schüler haben, ist das nicht sinnvoll. Es ist super schade, dass so ein Konzept wie die Verbeamtung einen dann festhält. Aber ich glaube, das ist nicht nur ein Lehrerproblem, sondern das ist eigentlich immer so. Wenn du in einem Job bist, mit dem du unzufrieden bist, aber der Gehaltscheck stimmt, dann musst du aus dir heraus einen Schritt wagen. Umso bequemer dir das Nest als Beamter gemacht wird, desto schwerer ist es natürlich daraus zu kommen […].
05:27 Arne: Ich kann mir auch vorstellen, dass es bei einem anderen System viel mehr Spaß macht, Lehrer zu sein. Es gibt zwei besondere Fächer, die an Deiner Schule unterrichtet wurden, nämlich das Fach Herausforderung und das Fach Verantwortung. Erzähle uns von diesen beiden Fächern, wie dort gelernt wird und wie ein Lernumfeld gestaltet wird, in dem sich junge Menschen entfalten und entwickeln können.
Jamila: […] Das Motto unserer Schule war Folgendes: Mindestens 30 Prozent der gesamten Schulzeit findet im Leben statt. Du lernst nicht nur in der Schule, sondern vor allem in der Welt. Darum waren diese Fächer ein integriertes Tool. Im Fach Verantwortung ging es grundsätzlich darum, Verantwortung zu übernehmen. Das war unglaublich vielfältig und Du konntest frei wählen, was Du machen wolltest, z.B. in der Kita, in einer sozialen Einrichtung oder selbstständig arbeiten. Dieses Projekt haben wir schon in der siebten, achten Klasse gemacht und wir haben dadurch gelernt, dass man etwas in der Gesellschaft bewirken kann. Das war eine schöne Lernerfahrung […].
09:50 Arne: Wie wird an dieser Schule sichergestellt, dass Kinder Verantwortung für sich selbst übernehmen? Das ist das, was wir in der Gesellschaft brauchen. Wir müssen weg von dem Opfer-Standpunkt, in dem alle anderen schuld sind, und hin zu einem Mindset, bei dem ich Verantwortung für meine Ergebnisse übernehme.
Jamila: […] In der normalen Schule wird Dir die Eigenverantwortung regelrecht aberkannt. Da ist es manchmal bequem, den anderen die Schuld zu geben. Es geht aber eigentlich vielmehr darum, ohne Schuldzuweisung Lösungen für Herausforderungen zu finden. Dasselbe gilt auf persönlicher Ebene. Die Verantwortung fängt bei Dir selber an!
Bei meiner Schule bin ich morgens in die Schule gekommen und musste erstmal selber entscheiden, in welchem Fach ich jetzt etwas tue. Es gab entsprechende Räume und Materialien, aber es lag in der eigenen Verantwortung, sich eigenständig zu entscheiden und loszulegen. Man hat einen Plan gemacht, Ziele gesetzt, Feedback bekommen. Ich habe gelernt, wie ich mein eigenes Leben manage und meine eigenen Ziele finde und erreiche. Man konnte machen, was man will, solange man die Verantwortung dafür übernommen hat.
Es ist aber auch wichtig, sich in seiner Verantwortung Hilfe zu holen, wenn man selbst nicht weiterkommt. Die Grundannahme der Schule ist, dass jedes Kind großartig ist. Es gibt keine Kinder, die blöd und unfähig sind! Es muss einen Grund haben, warum ein Kind Mathe hasst oder andere Kinder stört. Aber es bringt nichts, Kinder zurecht zu stutzen, denn das bewirkt eher eine Verschlimmerung der Situation, weil sich das Kind nicht wertgeschätzt fühlt […].
19:48 Arne: Das ist eine gute Vorannahme, die sehr bedeutsam ist, um so ein Schulkonzept überhaupt leben zu können. Ich muss in dem Vertrauen sein, dass alle großartig sind und dass alle ein Potenzial haben.
Jamila: […] Es ist aber auch wichtig, genau das für sich selbst zu lernen.
Wenn Du darauf vertraust, dass Du ein unbegrenztes Wesen bist, das unfassbar viel leisten kann, dann tust Du es einfach und denkst nicht viel darüber nach. Ansonsten limitierst Du Dich von Anfang an.
Wir haben einen Glaubenssatz in uns und suchen permanent nach Bestätigung. Deswegen ist diese Grundannahme, dass die Schüler großartig sind, extrem wichtig. Die Schule prägt deine Einstellung und Haltung, nicht nur dein Wissen […].
25:54 Arne: Du hast vorhin über das Fach Verantwortung gesprochen. Gab es dieses Fach in jedem Schuljahr? Und wieviel Zeit habt Ihr darauf verwendet?
Jamila: […] Das war einmal die Woche für zwei Jahre. Es ging in der siebten und achten Klasse jeweils ein Jahr lang. Mittlerweile wurde es bis zur zehnten Klasse erweitert, sodass man vier Projekte machen kann [...].
Jamila: [...] Das zweite Fach ist Herausforderung. Wir suchen uns eine selbstgewählte Herausforderung, meistens in der Gruppe, und haben folgende Rahmenbedingungen: Wir bekommen drei Wochen nach den Sommerferien Zeit, um diese Herausforderung zu meistern. Wir müssen außerhalb von Berlin sein und dürfen in diesen drei Wochen nicht mehr als 150 Euro verwenden. Von der Verpflegung und Unterkunft über die Fahrtkosten und alles, was noch anfallen könnte, müssen wir mit 150 Euro auskommen. Man macht dieses Projekt in der achten, neunten und zehnten Klasse. Dadurch lernt man, dass nicht immer alles nach Plan läuft und sich trotzdem immer für jedes Problem eine Lösung findet […].
30:38 Arne: Erzähle uns bitte von Deinen drei Herausforderungen.
Jamila: […] Bei meiner ersten Herausforderung war ich mit einer Gruppe von drei Jungs unterwegs. Wir wollten von Berlin an die Ostsee wandern. Es muss zusätzlich aus sicherheitsrechtlichen Gründen eine volljährige Person mit dabei sein, wenn man nicht an einem festen Ort ist. Wir haben uns eine Route gesucht und haben entschieden, an Häusern zu klingeln und im Garten zu übernachten. Wir haben sehr freundliche Menschen kennengelernt und wurden überall mit offenen Armen empfangen. Das Ziel wurde am Ende erreicht und das war ein schönes Gefühl. Ich war unglaublich stolz! Nach diesem Projekt folgen immer eine Reflexionswoche und ein großes Fest, in dem wir alles präsentieren, was wir gemacht haben […].
35:12 Arne: Was hast Du in dem Jahr darauf gemacht?
Jamila: [...] Im nächsten Jahr habe ich mich als Reitlehrerin probiert. Ich war mit einer Freundin zusammen auf einem Reithof und wir haben die Schulklassen dort unterrichtet. Wir haben uns um die Tiere gekümmert und ich habe zum ersten Mal gemerkt, was für eine Verantwortung es ist, sich um einen Hof zu kümmern. Und parallel habe ich mit zwei Mitschülerinnen ein Buch geschrieben, "Wie wir Schule machen: Lernen, wie es uns gefällt". Das war in der achten, neunten Klasse […].
37:39 Arne: Gab es noch eine dritte Herausforderung?
Jamila: […] Das war noch einmal eine Wanderung auf dem nächsten Level. Eine Freundin und ich haben uns entschieden, mit Leuten zu wandern, die wir noch nicht kennen. Wir wollten diese Wanderung zudem im Ausland machen. Nach langem Überlegen haben wir uns für England entschieden und sind dort den South West Coast Path gewandert. Wir hatten aber nur 150 Euro. Deswegen haben wir die Deutsche Bahn angeschrieben, ob wir die Tickets kostenlos erhalten. Ihre Antwort war, dass wir die Bahntickets nach England bekommen, wenn wir ihre Führungskräfte coachen, wie man eine Herausforderung bewältigt. So sind wir nach England gelangt. Die größte Herausforderung war letztendlich nicht das Wandern, sondern die Gruppe zusammenzuhalten […].
44:02 Arne: Wie könnte man Dich und Dein Anliegen am besten unterstützen? Du hast gesagt, Ihr habt mit dem Kultusministerium in Niedersachsen zusammengearbeitet. Welche Dinge würden Dir noch helfen, um Deine Vision Realität werden zu lassen?
Jamila: […] Ich überlege oft, was ich selber tun kann, um diese Bewegung in Gang zu bringen. Auf jeden Fall braucht es eine Bereitschaft für Veränderung bei den Menschen. Es ist schon eine riesige Hilfe, wenn keine Steine in den Weg gelegt werden […].
52:26 Arne: Ich glaube, diese Bewegung muss per Video begleitet werden. Gibt es schon Filme über Eure Arbeit?
Jamila: […] Natürlich, sowohl schriftliche Interviews als auch Dokumentationen. Demnächst wird ein Kinofilm veröffentlicht mit einer französischen und englischen Schule sowie meiner Schule in Berlin. Aber es darf noch mehr Menschen zugänglich gemacht werden. Der Bedarf ist definitiv da! Jetzt müssen sich die Schulen entwickeln und das umsetzen [...].
Jamila: [...] Was sagen denn Unternehmer, was sinnvoll wäre: Konkurrenzkampf und Notendruck oder Selbstständigkeit und Eigendenken […]?
54:31 Arne: Ich bin natürlich in meiner Filterblase unterwegs und spreche wahrscheinlich mit mehr Unternehmern, die ähnlich denken wie ich. Ich nehme wahr, dass viele Unternehmer Non-Konformisten sind und sich wünschen, dass in Schulen anders gearbeitet wird als heute. Ich glaube, dass junge Unternehmer eher die Meinung haben, dass das Schulsystem erneuert werden muss.
Wahrscheinlich wird das eine Revolution von unten, also eine Graswurzelbewegung. Ich glaube, wenn acht oder zehn Prozent der Bevölkerung eine Idee für richtig halten, breitet sich das unaufhaltsam relativ schnell weiter aus. Wahrscheinlich sind wir da aber noch nicht.
Jamila: […] Um diese Bewegung voranzutreiben, braucht es die Offenheit eines jeden Einzelnen und den Diskurs darüber. Deswegen freue ich mich sehr, wenn Leute mit mir in Kontakt treten und wir uns austauschen. Ich glaube, dass viele Menschen eine Vision haben, die anders ist als die jetzige Situation. Wir sind gut mit Entscheidungsträgern vernetzt und das hilft auch. Teilweise können wir gar nicht so viel tun, wie wir gerne wollen, denn es benötigt auch finanzielle Unterstützung. Egal, was man beitragen kann, es lohnt sich am Ende und man findet immer einen Weg, sich zu engagieren […].
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